In der Corona-Krise
Ein Interview mit dem Psychiater Dr. Manfred Lütz

Im Herbst letzten Jahres wurde Dr. Manfred Lütz in den Ruhestand verabschiedet. | Foto: Robels
  • Im Herbst letzten Jahres wurde Dr. Manfred Lütz in den Ruhestand verabschiedet.
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Köln - (sr) Wir steuern auf eine Zeit zu, die wir alle so noch nicht erlebt
haben. Wir sollen möglichst zuhause bleiben und unsere sozialen
Kontakte einschränken. Der Psychiater und Theologe Dr. Manfred Lütz
hat uns dazu ein paar Fragen beantwortet, die wir für sehr hilfreich
halten. Dr. Lütz hat 22 Jahre als Chefarzt das Alexianer-Krankenhaus
geleitet und ist Bestseller-Autor. Aus seiner Feder stammen zum
Beispiel die Werke „Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem
sind die Normalen“, „Wie Sie unvermeidlich glücklich werden. Eine
Psychologie des Gelingens“ oder auch das Gesprächsbuch mit Jehuda
Bacon: „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden. Leben nach
Auschwitz“.

Herr Dr. Lütz, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns
nehmen. Was bedeutet diese Ausnahmesituation für unsere
Gesellschaft?

„Man ist jetzt sehr auf sich selbst zurückgeworfen, soziale
Kontakte funktionieren nun anders als früher. Aber wir müssen sie
gerade jetzt verstärken, natürlich nicht physisch, aber per Telefon
und mithilfe der anderen sozialen Medien. Gerade habe ich gelesen,
dass Kardinal Woelki einen Aufruf an alle Pfarrgemeinden erlassen hat,
jetzt das caritative Handeln zu aktivieren. Es wäre doch tatsächlich
furchtbar, wenn ausgerechnet in dieser Situation die „Tafeln“
schließen, weil die älteren Ehrenamtlichen das nicht mehr machen
sollen. Da regt der Kardinal an, dass Firmlinge und Ministranten diese
Aufgaben sozusagen ambulant übernehmen könnten. Das finde ich toll.
Es ist einfach wichtig, jetzt nicht einfach bloß passiv jede neue
Information aufzusaugen, sondern zu überlegen, was man selber tun
kann – ohne anderen Menschen körperlich zu nahe zu kommen. Gerade
habe ich ein Video aus Bamberg gesehen, wo Menschen in einer Straße
für die so schlimm getroffenen Italiener aus Solidarität und zur
Ermutigung ein Liedchen singen.“

Haben wir in ein paar Monaten eine höhere Scheidungsrate, wenn
Familien plötzlich auf engem Raum zusammenleben, die sich sonst nur
morgens und abends treffen?

„Vielleicht haben wir mehr Scheidungen. Aber vielleicht haben wir
auch mehr Hochzeiten, weil Paare merken, dass es zusammen viel besser
klappt als gedacht. Ich bin kein Fan von Ratgebern, die mit
allgemeinen Ratschlägen die Menschen oft nur traurig machen. Jede
Familie muss für sich selbst den richtigen Weg finden. Da kann es
nützlich sein zu überlegen, was man in einer vergleichbaren
Situation früher mal erfolgreich gemacht hat und das wieder zu tun.
Auch lohnt sich ein Blick auf den Benediktiner-Orden. Da leben Mönche
ihr ganzes Leben lang gemeinsam in einer Gemeinschaft auf engem Raum.
Die Benediktiner-Regel ist psychologisch genial und funktioniert schon
seit 1.500 Jahren. Da gibt es zum Beispiel tagsüber ein
Schweigegebot, denn man hält es nicht aus, mit denselben Leuten von
morgens bis abends dauernd zu quatschen. Es gibt dann aber natürlich
auch Zeiten, in denen man gemeinsam redet und gemeinsame Rituale.
Davon kann man viel lernen. So ist es sicher nicht gut, wenn die ganze
Familie nur noch im Schlafanzug durch die Wohnung tappt und der Tag
überhaupt keine Struktur hat. Und wenn man dann zu einer festen Zeit
zusammen redet, kann es sinnvoll sein, dass der Jüngste zuerst redet,
denn der hat vielleicht die kreativsten neuen Ideen. Auch diesen Tipp
des heiligen Benedikt kann man nutzen.“

Haben Sie Tipps für Krankenschwestern und Co, die in
Krankenhäusern und Supermärkten arbeiten?

„Krankenschwestern haben immer Stress, das ist jetzt nur mehr in der
Presse. Aber natürlich entstehen nun besondere Belastungssituationen
für das Personal, auch in den Supermärkten. Doch in
Extremsituationen sind die Menschen oft erstaunlich belastbar, vor
allem, wenn sie das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun. Es war
gut, dass unsere Bundeskanzlerin gerade diesen Menschen, auf die es
jetzt besonders ankommt, besonders gedankt hat.“

Wie geht man am besten damit um, wenn man bei dem ganzen Stress
auch noch von Kunden beschimpft wird?

„Leute, die ausrasten, sind oft unsicher und haben Angst. Da kann es
dann hilfreich sein, ihnen ruhig, mit Verständnis und vielleicht
sogar liebevoll zu begegnen. Dann können sich viele sehr schnell
wieder beruhigen. Aggressivität mit Aggressivität zu begegnen,
bringt meist nichts.“

Vielen Dank für das Telefon, physisch isoliert und doch in Kontakt.

Redakteur/in:

Sabine Robels aus Köln

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