Auf der Walz in Deutschland
Das „Schlitzohr“ hat keinen Ohrring mehr

- Marvin aus Kaisersesch freut sich über die Arbeit bei Dachdeckermeister Höffgen, ein Giebelverschieferung mitten in Siegburg.
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Rhein-Sieg-Kreis - Wer hat sie noch nicht gesehen, die Wandergesellen mit großem
Krempenhut und Schlaghose, mit Stenz und Charlottenburger? Um ein
klein wenig Licht in dieses Leben und in diese Begriffe zu bringen,
hat sich das Extra-Blatt mit zwei Wanderburschen getroffen und konnte
spannende Dinge aus deren Leben erfahren.
Zunächst war es Florian aus Brilon, der in grauer Kluft unterwegs
ist. Er gehört zum Gewerk der Maurer. Er ist erst kurze Zeit
unterwegs und schaut sich zunächst noch nicht nach Arbeit um.
Altgesellen nehmen ihn in die Obhut und bringen ihm bei, wie man sich
selber organisiert, wie man von A nach B kommt, wie und wo man
nächtigen kann und wie man halbwegs regelmäßige Malzeiten
organisiert - all das braucht seine Zeit.
Marvin, der zweite Wandergeselle aus Kaisersesch in der Eifel, gehört
zum Gewerk der Dachdecker. Seine Kluft ist schwarz und er steht
bereits im Arbeitsleben. Seit sieben Monaten ist er auf der Walz.
Momentan schafft er beim Frontsänger der Deutschrockgruppe
„Kärbholz“, dem Dachdeckermeister Torben Höffgen in
Ruppichteroth-Velken. Auf dem Kärbholz-Konzert in Rosbach hat man
sich kennengelernt und Höffgen hat ihn gleich aufgenommen.
Aufgenommen wie man es früher kannte - für Kost und Logie - gibt es
heute nicht mehr, die Wandergesellen werden nach Tariflohn bezahlt.
Marvin kann einiges erzählen aus seinem Leben als Wanderbursche, aber
auch zu Ritualen, auf die peinlichst geachtet wird, da man sonst sehr
schnell seinen Ruf verliert. Ruf und Ehre stehen bei den Burschen - es
gibt auch Wandergesellinnen - an oberster Stelle.
Zunächst einmal gibt es einige Bedingungen, die jeder mit bringen
muss: Gesellenbrief, unter 30 Jahre alt, unverheiratet, keine Kinder,
kein Haus, unverschuldet, keine Vorstrafen. Gestartet wird mit maximal
fünf Euro in der Tasche, die man nach den drei Jahren dann auch
wieder mit zurück bringen muss. Neben der Kluft sind es der Stenz
(naturgedrehter Wanderstab) und der Charlottenburger (ein 80 x 80
Zentimeter großes Tuch, in welches Hab und Gut des Gesellen
geschnürt ist), die den Gesellen auszeichnen.
Der Wandergeselle verpflichtet sich, für drei Jahre und einen Tag auf
der Walz zu sein. Gleichbedeutend mit der Tatsache, dass es um seinen
Heimatort eine Bannmeile von 50 Kilometer gibt, die er in dieser Zeit
nicht betreten darf. Einzige Ausnahme sind schlimme Krankheits- oder
Todesfälle in der Familie, in diesen Fällen wird er normalerweise
von einem Altgesellen begleitet.
Man schließt sich einer Zunft an („Schächte“ - derer gibt es
fünf) und trifft sich mit den anderen Schachtmitgliedern regelmäßig
zu Stammtischen. Bei Marvin ist es der Schacht der „Freien
Vogtländer Deutschlands“. Ihr monatlicher Stammtisch findet in
Köln-Worringen statt. Dort trifft man sich im Lokal „Zint
Tünnes“, die Wirtsleute werden von den Gesellen liebevoll Vater und
Mutter genannt, Mal kommen nur fünf, mal aber auch bis zu 50 Gesellen
zu diesen Stammtischen. Gesprächsthemen gibt es hier reichlich, so
beispielsweise auch, wie man an neue Nachtquartiere kommt. Gute Tipps
werden dort gehandelt, gemeinsam enden diese Abende auch immer sehr
gesellig.
Ein sicherer Anlauf für die Wandergesellen sind bundesweit die
Kolpinghäuser. Gesellenvater Adolph Kolping war es, der 1849 den
ersten Gesellenverein gründete. Damit einher gehend auch für
wandernde Gesellen. Klopft heute ein Wandergesellenbursche oder ein
-mädel an einem Kolpinghaus an, dann ist ihm oder ihr eine warme
Mahlzeit und eine kostenfreie Nacht gesichert.
Bliebe noch die Erklärung, was es mit dem „Schlitzohr“ auf sich
hat: Ein Wandergeselle trägt stets einen Ohrring, meistens aus Gold,
der somit auch einen Wert darstellt. Man muss hierbei weit zurück
denken in die Zeit ohne Telefon und Internet. So kam es vor, dass ein
Geselle weit weg von zu Hause tödlich verunglückte oder starb, ein
Erreichen der Heimat war im Prinzip unmöglich. Mit diesem Ohrring war
sichergestellt, dass die Bestattungskosten gedeckt waren - was aber
immer noch nichts mit dem Schlitzohr zu tun hatte.
Es gab auch in dieser Zunft damals immer schon listige und
durchtriebene Menschen. Denen wurde bei unehrenhaftem Verhalten von
den Mitgesellen der Ohrring herausgerissen, er galt fortan als
„Schlitzohr“.
Was treibt junge Menschen, auf die Walz zu gehen, einfach los zu
gehen, völlig frei zu sein? Sie wollen neue Orte sehen, neue Menschen
kennenlernen, aber auch neue Arbeitstechniken. Wer auf die Walz geht,
folgt einem jahrhundertealten Ritual. Abenteuer ist garantiert, eine
entbehrungsreiche Zeit auch.


Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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