Jürgen Rüttgers im Interview
Der frühere Ministerpräsident blickt zurück und nach vorn

- Jürgen Rüttgers engagiert sich mit viel Herzblut für die Abtei Brauweiler. Mit Kantor Michael Utz hat er das Jahresprogramm vorgestellt.
- Foto: Thiele-Effertz
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Herr Professor Rüttgers, nach Ihrem Ausscheiden aus der Politik
arbeiten Sie als Rechtsanwalt und lehren Politische Wissenschaft an
der Uni Bonn. Ist Ihnen der Ausstieg aus der Politik schwer
gefallen?
Ja und nein, weil ich gerne für die Menschen in Europa,
Deutschland, Nordrhein-Westfalen und im Rhein-Erft-Kreis gearbeitet
habe. Aber ich habe auch heute noch viele ehrenamtliche Aufgaben, zum
Beispiel als Sonderberater der Europäischen Kommission oder in der
Abtei Brauweiler.
Mit dem absehbaren Ende der Braunkohle steht der Rhein-Erft-Kreis
vor großen Herausforderungen. Glauben Sie, dass die Region für die
anstehenden Veränderungen gut aufgestellt ist?
Nein, das glaube ich nicht. Die ganze Diskussion geht nur um Geld
und Politik. Es reicht nicht, über neue Gewerbegebiete, Bahnstrecken
und Straßen zu reden.
Der Bund legt ein Milliardenprogramm auf, um den Kohleausstieg im
Revier bis 2038 abzufedern. Was ist die vordringlichste Aufgabe?
Wir brauchen einen Zukunftsentwurf für unsere Heimat. Ich bin für
den Großen See und massive Aufforstungen. Die Arbeitsplätze müssen
in der digitalen Welt wieder zurück in die Zentren. Der ländliche
Raum darf nicht abgehängt werden.
Städte an den Rändern der Großstädte, wie Frechen, Hürth und
Pulheim, werden weiter wachsen. Ist das weitere Wachstum heute Fluch
oder Segen?
Wachstum ist kein Wert an sich. Wir brauchen mehr
Produktivitätswachstum und moderne Technologien. Wer heute noch
großflächigen Einzelhandel oder Logistik und Distributionszentren
ansiedelt auf viel Fläche und mit wenigen Arbeitsplätzen ausstattet,
versündigt sich an der Region. Wer wie die Stadt Köln die
Luftschneisen für die Kölner Innenstadt zubaut, ist ein
Klimasünder. Wer Verkehrsstaus auf den Kölner Zufahrtsstraßen
produziert, ohne dass es eine regionale Verkehrsplanung gibt,
verlagert nur den CO2-Ausstoß. Wie sollen denn die Pendler zu ihren
Arbeitsplätzen kommen? Alle Regionalpläne im Rheinland müssen
überprüft und geändert werden. Am Randkanal muss im Zusammenhang
mit dem Naherholungsgebiet „Stöckheimer Höfe“ ein neuer großer
Grüngürtel entstehen. Aber auch da wird trotz vorliegender Planungen
nur geredet und viel zu wenig getan.
Sie sind Ihrer Heimatstadt Pulheim stets eng verbunden geblieben
und sind Vorsitzender des Freundeskreises Abtei Brauweiler, die Ihnen
besonders am Herzen liegt. Worin liegt für Sie die Magie dieses
Ortes?
In der Abtei Brauweiler treffen sich die deutschen und
europäischen Entwicklungen der letzten 1000 Jahre. Die erste
polnische Königin Richeza kam aus Brauweiler. Der große
französische Mönch Bernhard von Clairvaux predigte hier. Der erste
Gründungsvorsitzende der SPD August Bebel ging als Kind hier zur
Schule. Konrad Adenauer, unser erster deutscher Bundeskanzler, war
hier in der Nazi-Zeit im Gestapogefängnis interniert. In meiner Zeit
als Ministerpräsident und ‚Zukunftsminister‘ fanden hier wichtige
internationale Tagungen zur Zukunft Europas und der Digitalisierung
und Globalisierung statt. Heute ist es ein europäisches Kulturzentrum
mit zwei wichtigen Festivals. Hier trifft sich Europa.
Noch eine private Frage: Sie sind 68 Jahre alt und haben das
Rentenalter erreicht. Wie halten Sie sich fit, um Ihre Aufgaben
bewältigen zu können?
Ich arbeite heute noch genauso viel wie früher. Wer arbeitet,
bleibt jung und gesund.
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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