Der Preis, den wir zahlen
Therapeutin und Lehrerin Julia Tiedge fordert ein Umdenken

Kinder brauchen stabile, vertrauensvolle Bindungen. Für die Pädagogin und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin (TP) Julia Tiedge ist es das Wichtigste für Kinder. | Foto: Robels
  • Kinder brauchen stabile, vertrauensvolle Bindungen. Für die Pädagogin und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin (TP) Julia Tiedge ist es das Wichtigste für Kinder.
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Köln - (sr) In der Krise zeigt sich, wie stabil eine Gesellschaft ist, wir
ernten, was wir gesät haben. In der Krise zeigt sich, was wichtig
ist, was gut ist. Aus einer Krise können wir gestärkt oder
geschwächt hervorgehen. Die Pandemie ist eine Krise, und sie wird
definitiv Folgen haben.

Inzwischen ist unser Nachwuchs ein großes mediales Thema. Dass es den
Kindern und vor allem den Jugendlichen nicht gut geht, ist längst
offensichtlich. Kinderärzte und Therapeuten schlagen Alarm. „Wie
viele Kinder und Jugendliche tatsächlich ernsthafte Störungen durch
die Pandemie entwickeln, werden wir erst in ein paar Jahren genauer
wissen“, sagt Julia Tiedge, Kinder- und
Jugendlichen-Psychotherapeutin (TP) und Lehrerin. Aber sie ist sich
sicher, dass wir noch eine lange Zeit mit den Folgen zu kämpfen haben
werden.

„Das Wichtigste für Kinder sind stabile, positive Bindungen. Fehlen
diese, hat das Auswirkungen unter anderem auf die Bildung und die
Gesundheit. Bindungen geben dem Kind Sicherheit“, weiß die
dreifache Mutter. Sie ist davon überzeugt, dass unsere Gesellschaft
seit vielen Jahren am Limit lebt. „Burnout ist so ein Schlagwort,
dahinter verbirgt sich Depression und Erschöpfung. Eine Diagnose, die
immer häufiger wird. In unseren Leben ist immer weniger Zeit für
entspanntes Zusammensein als Familie. Viele Kinder können keine
stabilen Bindungen aufbauen, die Eltern stehen viel unter Druck, dann
der Personalmangel in KiTas und Schulen“, als studierte Lehrerin
weiß sie, wovon sie redet. Auch die Pädagogen können nicht
auffangen, was in vielen Familien fehlt, stehen selbst unter großer
Belastung.

Das alles galt bereits vor der Pandemie. „Und dann fielen viele
soziale Kontakte weg. Großeltern, Freunde, Verwandte, Nachbarn,
Lehrer, Erzieher waren lange Zeit nicht mehr präsent“, sagt Tiedge.
Und die Eltern? „Denen ging es auch oft nicht gut, Mehrfachbelastung
durch Job und zeitgleicher Kinderbetreuung, oft plus homeschooling,
Existenzängste, Sorgen und Nöte. So brachen für viele Kinder und
Jugendlichen nach und nach die Stützen weg.“

Und jetzt? „Runterfahren“, sagt die erfahrene Therapeutin und
Pädagogin, „sich auf das besinnen, was wirklich wichtig ist. Und
das ist Zusammenhalt in der Familie oder in der kleinen Gruppe. Und
den Kindern den Druck nehmen. Ein Schuljahr können die Kinder
wiederholen, vieles kann man nachholen. Was jetzt zählt, ist, sich
aufeinander zu besinnen, Bedürfnisse im Blick zu haben - eigene wie
die der Kinder. Offenheit und Vertrauen sind wichtig, erzählen, aber
auch zuhören. Spieleabende statt Mallorca, Zusammenhalten statt
Karriereplanung. Alles hat seine Zeit.“

Julia Tiedge sagt, dass nicht alle Kinder mit psychischen Störungen
auf die Belastung reagieren, das hänge von vielen Faktoren ab. Auch
in Pandemiezeiten machen die Kids Trotzphasen und Pubertät durch.
„Wenn Kinder oder Jugendliche jedoch ihr Wesen verändern, laute
Kinder plötzlich und über einen längeren Zeitraum leise werden oder
umgekehrt, dann ist Handlungsbedarf“. Für die Gesellschaft wünscht
sie sich ein Umdenken. „Es werden immer wieder Projekte ins Leben
gerufen, für zwei Jahre finanziert und in die Schublade gelegt. Wir
sollten aus der Pandemie lernen. Mehr Flexibilität für Familien
ermöglichen, in Bildung und Betreuung die Bindung und damit auch
kleinere Systeme an erste Stelle setzen. Eltern brauchen Zeit für
sich und ihre Kinder. Und wir dürfen nicht vergessen, wie viele
Familien bei uns arm sind, für die das Wegbrechen der Schulspeisung
zum Beispiel eine Katastrophe war.“ Es gibt also viel zu tun, jetzt
und nach der Wahl.

Redakteur/in:

Sabine Robels aus Köln

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