„Hochwasser-Demenz“
Interview mit Dr. Gattke vom Erftverband

Dr. Christian Gattke an einem der größten Hochwasser-„Hebel“ des Rhein-Erft-Kreises - am Wehr in Kerpen-Mödrath. Wenn hier die Schieber gesenkt werden, wird Wasser in die Erftauen und ­unter der L163 hindurch bis in den ehemaligen Tagebau Frechen in der Nähe des Papsthügels geleitet - Stauraum für fast 
1,5 Millionen Kubikmeter Wasser.               | Foto: Düster
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  • Dr. Christian Gattke an einem der größten Hochwasser-„Hebel“ des Rhein-Erft-Kreises - am Wehr in Kerpen-Mödrath. Wenn hier die Schieber gesenkt werden, wird Wasser in die Erftauen und ­unter der L163 hindurch bis in den ehemaligen Tagebau Frechen in der Nähe des Papsthügels geleitet - Stauraum für fast
    1,5 Millionen Kubikmeter Wasser.
  • Foto: Düster

Knapp ein Jahr nach dem Hoch­wasser - wir haben mit dem Erftverband über das Ereignis und die Folgen gesprochen. Dr. Christian Gattke, Abteilungsleiter Flussgebietsbewirtschaftung, stand Volker Düster zum Interview bereit:

Die Hochwasserkatastrophe jährt sich zum ersten Mal. Wie sieht der Rückblick seitens des Erftverbandes aus?

Dr. Gattke: „Tief ‚Bernd‘ entlud am 14. Juli extreme Niederschlagsmengen. Im südlichen Erft-Einzugsgebiet wurden flächendeckend über 130 mm Regen - mit 179 mm als Höchstwert im Bereich der Steinbachtalsperre - gemessen. Die Niederschläge lösten dann das extreme Hochwasser an der oberen und mittleren Erft und den Nebengewässern aus, wie Neffelbach, Rotbach, Veybach oder Swist. An fast allen Gewässerpegeln wurden die bisher gemessenen Höchstwasserstände und das für die Erstellung der Hochwassergefahrenkarten angenommene Szenario eines Extrem-Hochwassers weit übertroffen.“

Was ist seitdem beim Erftverband passiert?

Dr. Gattke:„Der Erftverband ist – wie auch unsere betroffenen Mitgliedskommunen - auf sehr vielen Ebenen tätig, um die Folgen des Hochwassers aufzuarbeiten. Auch ein Jahr nach dem Ereignis bindet das noch sehr viele Ressourcen und ist für viele Beschäftigte eine große Belastung. Schäden an Gewässern, Hochwasserrückhaltebecken und abwassertechnischen Anlagen in der Größenordnung von 40 Millionen Euro müssen beseitigt werden. Die Schadensregulierung mit unserer Versicherung sowie die damit verbundene Abstimmung des Wiederaufbauplans mit der Bezirksregierung Köln werden ebenfalls intensiv geführt. Insgesamt hat der Erftverband im Rahmen des Wiederaufbaus in 38 Ortschaften 104 Maßnahmen zur Beseitigung von Schäden an den Gewässern selbst und den mit ihnen in funktionellen Zusammenhang stehenden wasserwirtschaftlichen Anlagen, also Wehre, Hochwasserrückhaltebecken und so weiter, erfasst.“

Wie ist ein Jahr nach der Flut der aktuelle Stand der Dinge?

Dr. Gattke: „Mit Stand Juni 2022 konnten von den 104 Maßnahmen bereits 84 abgeschlossen werden. Arbeiten, wie die Reparatur des von der Bezirksregierung Köln außer Betrieb genommenen Hochwasserrückhaltebeckens Horchheim bei Weilerswist, befinden sich in der Planung und werden in Kürze ausgeschrieben. Die Hochwasserrückhaltebecken in Bad Münstereifel-Eicherscheid und Erftstadt-Niederberg sind bereits seit letztem Jahr wieder voll betriebsbereit. Seit dem letzten Sommer hat der Erftverband zudem mit der Umsetzung der Hochwasserschutzmaßnamen in Zülpich-Sinzenich am Rotbach, in Euskirchen am Veybach und den Renaturierungsmaßnahmen an der Erft in Euskirchen oder am Neffelbach in Nörvenich begonnen. Teilweise konnten die Bauarbeiten bereits erfolgreich abgeschlossen werden. Hierbei handelt es sich allerdings um Maßnahmen, die bereits seit mehreren Jahren projektiert wurden und für die entsprechende Genehmigungen vorlagen.“

Für welche, vielleicht auch bittere Erkenntnis hat das Ereignis gesorgt?

Dr. Gattke: „Die Hochwasserkatastrophe hat gezeigt, dass auf allen Handlungsfeldern des Hochwasserrisikomanagements – von der Vorsorge, der Regional- und Bauleitplanung, über die Stärkung des natürlichen Wasserrückhalts, bis hin zum technischen Hochwasserschutz – verstärkte Anstrengungen aller Akteure zur Reduzierung des Hochwasserrisikos erforderlich sind. Einen zentralen Baustein zur Verbesserung des technischen Hochwasserschutzes stellen kommunale Hochwasserschutzkonzepte dar. Im Januar 2022 veröffentlichte das Umweltministerium einen 10-Punkte-Arbeitsplan zur Verbesserung des Hochwasserschutzes. Darin führt es kommunale Hochwasserschutzkonzepte – möglichst auf Ebene von Flusseinzugsgebieten – als wesentlichen Beitrag zu einem kosteneffizienten und nachhaltigen Hochwasserschutz auf und fördert die Erstellung durch die Kommunen. Auf dieser Grundlage haben die von der Hochwasserkatastrophe stark betroffenen Kommunen im südlichen und mittleren Erft-Einzugsgebiet gemeinsam mit den Kreisen und dem Erftverband eine Kooperationsvereinbarung zum Interkommunalen Hochwasserschutz initiiert.“

Welche Rolle kommt dabei dem Erftverband zu?

Dr. Gattke: „Der Erftverband ist Projektkoordinator. Am 23. Juni 2021 fand bereits der offizielle Termin zur Unterzeichnung der Kooperationsvereinbarung zur Verbesserung des Hochwasserschutzes im Erfteinzugsgebiet durch die aktuell insgesamt 17 Kooperationsmitglieder im Kreishaus Euskirchen statt. Weitere Mitglieder werden zeitnah folgen. In Absprache mit der Bezirksregierung Köln wurden zudem die Verteilung der einzelnen Arbeitspakete und die entsprechenden Möglichkeiten zur Landesförderung und Muster-Leistungsverzeichnisse für die kommunalen Hochwasserschutzkonzepte abgestimmt. Damit können die Kommunen zeitnah mit der Beauftragung von Ingenieurbüros zur Erstellung der durch das Land geförderten, kommunalen Hochwasserschutzkonzepte beginnen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Konzepte wird die unmittelbare Einbindung der Bürgerschaft über Workshops zur Identifizierung ortskonkreter Schutzmaßnahmen sein.“

Apropos Einbindung der Bürgerschaft: Warum hat man seitens des Erftverbands bislang so wenig Konkretes verkündet?

Dr. Gattke:„Der Verband hat im letzten Jahr seine Öffentlichkeitsarbeit deutlich intensiviert. Der ausdrückliche Schwerpunkt lag auf der Information unserer Mitglieder in Politik, Verwaltung und Bürgerschaft. In der ersten Phase nach dem Hochwasser ging es vorrangig darum, zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Nun sind wir in der Phase, gemeinsam mit unseren Mitgliedern Strategien und konkrete Maßnahmen zur Reduzierung der Hochwasserrisiken zu erarbeiten. Dabei ist uns der unmittelbare Dialog an der Seite der Verwaltungen unserer Mitgliedskommunen mit der Bürgerschaft besonders wichtig.“

Aber nochmal, warum gibt es noch nichts Konkretes zu verkünden?

Dr. Gattke:„Zu den Aufgaben des Erftverbands gehört zum Beispiel auch die Steuerung - oder hier Dämpfung - des Hochwasserabflusses in den Gewässern über Hochwasserrückhaltebecken und die Renaturierung der Gewässer unter anderem zur Verbesserung des natürlichen Hochwasserrückhalts. Derartige Maßnahmen erfordern eine entsprechende Genehmigung durch die Wasserbehörden. Bis zu deren Erteilung von der Erstellung der Planungs- und Genehmigungsunterlagen sowie der Durchführung des Genehmigungsverfahrens vergehen im günstigsten Fall mindestens drei Jahre. Die aktuell laufenden Baumaßnahmen wurden, wie gesagt, bereits Jahre vor der Flutkatastrophe projektiert.“

Welche Maßnahmen sind denn nun für die nahe Zukunft konkret vorgesehen?

Dr. Gattke: „Aktuell betreibt der Erftverband 23 Hochwasserrückhaltebecken (HRB) mit einem Stauvolumen von insgesamt rund 7,73 Millionen Kubikmeter. Im Rahmen einer Retentionsraumanalyse im südlichen und mittleren Einzugsgebiet der Erft werden derzeit zirka 50 Standorte für zusätzliche Hochwasserrückhaltebecken mit dem hydrologischen Modell des Erftverbandes hinsichtlich ihrer Wirksamkeit untersucht. Ziel der Modellsimulationen ist es, für verschiedene Hochwasserszenarien zu ermitteln, inwieweit diese konkreten Standorte in der Lage sind, Abflussspitzen abzumindern und damit zur Verbesserung des Hochwasserschutzes der flussabwärts liegenden Ortslagen beizutragen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die natürlichen Ausuferungsbereiche entlang der Gewässer zwischen den Ortslagen zu erhalten sind. Dementsprechend kommt der Erhöhung der schadlosen Abflussleistung innerhalb der Ortslagen, zum Beispiel durch die Beseitigung von Engstellen, eine ebenso wichtige Bedeutung zu, wie der Suche nach weiteren HRB-Standorten. Bei einzelnen, potentiellen Beckenstandorten zeigt sich bereits jetzt eine deutliche lokale, aber auch überregionale Wirksamkeit auf. Diese werden dementsprechend weiter projektiert, das heißt: Zuerst erfolgt die Durchführung einer Restriktionsanalyse, dann beginnt die Erstellung der Entwurfs- und Genehmigungsplanung. Die entsprechenden Standorte werden in den kommenden Monaten sukzessive mit den jeweiligen Kommunen diskutiert und der Ortspolitik und der Bevölkerung vorgestellt.“

Wann sollen denn erste Umsetzungen erfolgen?

Dr. Gattke: „Wir hoffen, dass wir spätestens 2025 mit der Umgestaltung des Kommerner Mühlensees in ein Hochwasserrückhaltebecken und dem Hochwasserabschlag des Vlattener Bachs in den Zülpicher Wassersportsee in den Bau gehen können. Durch den so geschaffenen künstlichen Rückhalt wird der Hochwasserschutz aller Unterlieger an Blei- und Rotbach verbessert. Hierbei handelt es sich um zwei besonders günstige Standorte, da die entsprechenden Bauwerke - Querdamm im Tal des Bleibachs, beziehungsweise Rückhaltevolumen im Wassersportsee - bereits vorhanden sind. Diese treiben wir daher prioritär voran. Trotzdem sind auch dort Umbauplanungen und entsprechende Genehmigungen erforderlich.“

Und wann können die Neubau-Maßnahmen voraussichtlich abgeschlossen werden?

Dr. Gattke:„Bis alle zusätzlichen Hochwasserrückhaltebecken des Erftverbands gebaut und alle kommunalen Schutzmaßnahmen umgesetzt sind, werden sicherlich 10 bis 15 Jahre, vielleicht sogar 20 vergangen sein.“

Wäre mit diesen Maßnahmen eine Katastrophe wie die in 2021 zu verhindern gewesen?

Dr. Gattke: „Das Ausmaß der Überschwemmungen kann durch technische Hochwasserschutzmaßnahmen sicher abgemildert werden, aber es ist davon auszugehen, dass eine Katastrophe wie die in 2021, allein durch technische Maßnahmen, nicht verhindert werden kann. Hier sind auch weitere Anstrengungen in der Vorsorge, der Regional- und Bauleitplanung und im Katastrophenmanagement erforderlich, um die Schadenswirkung derartiger Ereignisse zukünftig zu reduzieren. Grundsätzlich gilt, dass technische Hochwasserschutzmaßnahmen ein planmäßig definiertes, begrenztes Schutzniveau besitzen. Dies ist in der Regel der Schutz vor einem Hochwasser, wie es statistisch alle 100 Jahre auftritt. Bei Hochwasserereignissen, die darüber hinaus gehen, bietet eine technische Hochwasserschutzmaßnahme keinen Schutz mehr. Eine Naturkatastrophe ist grundsätzlich nicht zu vermeiden, wir können nur Einfluss auf die daraus resultierenden Schäden nehmen.“

Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?

Dr. Gattke:„Dass die ‚Hochwasser-Demenz‘ diesmal nicht einsetzt, sondern der Hochwasserschutz, aber auch der Gewässerschutz im Allgemeinen, einen deutlich höheren gesellschaftlichen Stellenwert erhält - damit nicht wieder einerseits bei der nächsten Entwicklung von Bau- oder Industriegebieten wasserwirtschaftliche Belange nur eine untergeordnete Rolle spielen, und andererseits bei Hochwasserschutz- oder Gewässer-Renaturierungs-Projekten andere öffentliche Belange - wie Natur- und Artenschutz, Denkmalschutz, Bodenschutz und so weiter - dazu führen, dass die Umsetzung der Gewässerprojekte Jahrzehnte dauert, wie zuletzt am Veybach in Euskirchen. Erfreulicherweise hören wir aus vielen Mietglieds-Kommunen, dass die Planungen zur Siedlungsentwicklung der letzten Jahre nach der Flutkatastrophe auf den Prüfstand kommen.“

Redakteur/in:

Düster Volker aus Erftstadt

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