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Im Stau der Interessen
Warum Kompromisse unsere Demokratie fördern

Foto: U.Pieper

in Zusammenarbeit mit U. Pieper

Mike startet den Tag hinter einer Windschutzscheibe, Uli hält einen Fahrradlenker. Beide rollen gleichzeitig los, beide teilen sich dieselben Straßen ihrer mittelgroßen Stadt Brühl. Doch schon an der ersten Ampel geraten ihre Welten aneinander. Mike knurrt, weil Radler viel zu knapp rechts an ihm vorbeiziehen. Uli schimpft, weil das Auto vor ihm den roten Schutzstreifen blockiert, der ja eigens zum Schutz von Radfahrern eingerichtet wurde. Was wie eine banale Rush‑Hour‑Szene aussieht, ist ein Lehrstück dafür, wie Demokratie funktioniert: zwei Bedürfnisse kollidieren, der Stadtrat muss sie ausbalancieren, die Verwaltung gießt das Ergebnis später in Asphalt, Schilder und Fahrpläne.

Dass hier niemand einfach ignoriert werden kann, belegen die Zahlen. 2024 waren in Deutschland 49 Millionen Pkw zugelassen – fast ein Auto pro Erwerbstätigem.
Gleichzeitig nutzen immer mehr Menschen das Fahrrad. Und die lange vernachlässigte Bahn meldet Rekordauslastungen.
Folgerichtig fordert Mike mehr Parkplätze und Abbiegespuren vor Ampeln für Brühl, während Uli auf sichere Radwege und Fahrradstraßen pocht.

Die Stadt reagiert auf beides: ein angemessenes Parkkonzept, damit das Zentrum erreichbar bleibt, und eine optimierte Nord-Süd‑Radroute, um den Radverkehr von der Hauptverkehrsader Römerstraße fernzuhalten. Jeder Schritt nach vorn ist ein mühsam verhandelter Kompromiss. Mal werden Bäume gefällt, mal Parkplätze gestrichen, mal wird eine Fahrspur zur Radspur umgewidmet und immer muss Geld locker gemacht werden. Und immer gibt es Menschen, denen keiner dieser Schritte passt.

Es klingt absurd, ist aber wahr: gerade dieses komplizierte Hin-und-Her macht unser System stark. Der Rat hört Verbände, Nachbarschaften und Fachleute an, berät sich, stimmt ab. Die Verwaltung prüft Machbarkeit, hält Auflagen ein, beantragt Fördergelder bei Bund und Land. Auf Außenstehende wirkt das quälend langsam. Doch am Ende dieses oft anstrengenden Prozesses steht meist ein Beschluss, den viele mitzutragen bereit sind. Wer seine Position wenigstens gehört weiß, akzeptiert auch Entscheidungen, die die eigenen Wünsche nicht hundertprozentig erfüllen. Und die Stadt mutiert weder zur Hochburg „der Autofahrer“ noch zum El Dorado der „Kampfradler“, sondern wächst Stück für Stück zu einem Gemeinwesen, in dem beide ihren Platz finden. Gerade deshalb ist der tägliche Streit um Radwege, Parkhäuser und Busspuren von Bedeutung. Er zeigt, dass Beteiligung Wirkung hat. Wenn auch langsam und nicht immer sofort erkennbar.

Gefährlich wird es, wenn der Glaube an diesen Ausgleich verloren geht. Laut der Leipziger Autoritarismus‑Studie 2024 sind nur noch knapp 46 Prozent der Deutschen zufrieden damit, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. Im Osten sogar weniger als 30 Prozent. Überdies wünschen sich mehr als 17 Prozent „eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“. Wer ständig hört, Politik tue „eh nichts für uns“, gerät in Versuchung, bewährte demokratische Verfahren durch striktes Durchregieren ersetzen zu wollen.

Die Stadt hat nicht für alle die perfekte Lösung gefunden, aber sie hat alle Seiten angehört und nach Kompromissen gesucht. Solange das so bleibt, dürfen wir den Lärm des Streits auf den Straßen als gesundes Geräusch einer Demokratie begreifen, die lieber langsam vorankommt, als jemanden völlig zurückzulassen.

Mike findet abends einen Platz am Belvedere, Uli stellt das Rad am neuen Radbügel an der Uhlstraße ab; Sie begegnen sich in der Fußgängerzone und regen sich beide über den rücksichtslosen E-Scooter-Fahrer auf. Dass die Stadt die noch nicht verboten hat!

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“Eine Demokratie ist auch nicht einfach: Es geht darum, unterschiedliche Interessen auszugleichen und Kompromisse zu finden. Viele Menschen schätzen den Kompromiss leider nicht mehr. Sie nehmen Maximalpositionen ein und haben ideologische Vorstellungen, von denen sie nicht abrücken wollen. Das polarisiert sehr. Insofern ist auch das Parlament herausgefordert.” (Bärbel Bas, Bundestagspräsidentin 2021 bis 2025)

Quellen

Interview Bas
https://www.das-parlament.de/inland/bundestag/viele-menschen-schaetzen-den-kompromiss-leider-nicht-mehr

KFZ in Deutschland
https://www.kba.de/DE/Statistik/Fahrzeuge/Bestand/bestand_node.html?utm_source=chatgpt.com

Autoritarismusstudie (Zusammenfassung)
https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/02_Infoseiten/2024_LAS/2024_11_13_Zusammenfassung_LAS2024.pdf

LeserReporter/in:

Susanne Bourier aus Brühl

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