Interkulturelle Wochen
Geschichten von Menschen ohne Heimat

Abdulvahap Cilhüseyin erzählt in „Eine türkische Geschichte“ aus dem Leben seiner Großmutter, die in den 60er-Jahren eine der ersten Gastarbeiterinnen war. | Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress
  • Abdulvahap Cilhüseyin erzählt in „Eine türkische Geschichte“ aus dem Leben seiner Großmutter, die in den 60er-Jahren eine der ersten Gastarbeiterinnen war.
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Euskirchen - (rmm) Im Rahmen der interkulturellen Wochen im Kreisgebiet trat Ozan
Ata Canani im Café Henry des Deutschen Roten Kreuzes auf. Der
türkisch-stämmige Musiker, ein Teil der Autoren-Gruppe „Daughters
and Sons of Gastarbeiters“ entlockte seiner Baglama, einer
Langhalslaute, spannende, mitreißende Sounds. Dazu sang er arabisch
gefärbte Lieder in deutscher Sprache, darunter auch „Deutsche
Freunde“, das er in den 1980er-Jahren in der Alfred-Biolek-Sendung
„Showbühne“ im Fernsehen vorgetragen hatte.

Vor fünf Jahren haben sich die „Daughters and Sons of
Gastarbeiters“ zusammengefunden. Judith König vom Kommunalen
Bildungszentrum im Kreis Euskirchen war bei der Vorbereitung auf die
interkulturellen Wochen auf das offene Literaturkollektiv gestoßen
– und verpflichtete es für die Lesung im Café Henry. „Es ist die
erste Autorenlesung im renovierten Mehrgenerationenhaus“, sagte
Sabine Heines von der Integrationsagentur des Roten Kreuzes. Erster
Autor war Abdulvahap Cilhüseyin, der sich in seinem Buch „Eine
türkische Geschichte“ dem Leben seiner Großmutter, die Anfang der
60er-Jahre als eine der ersten Gastarbeiterinnen nach Deutschland kam,
widmet. Er berichtet von den Widrigkeiten, wie ihr Vater sie
ohrfeigte, als sie ihm ihren Entschluss mitteilte, und wie sie ihre
drei Kinder und ihren Mann zurückließ.

In Deutschland hatte sie drei Jobs gleichzeitig, arbeitete bei der
Deutschen Bahn, in einer Suppenküche und als Putzfrau. Tag und Nacht
schuftete sie, sie lebte in einer zur Einzimmerwohnung umgebauten
Abstellkammer. Auf die heutige Zeit umgerechnet 30.000 Euro benötigte
sie, um ihre Kinder von ihrem Mann freizukaufen. Außerdem
organisierte sie einen Hilfstransport in die Türkei. Einen kompletten
Bahnwaggon mietete sie und füllte ihn mit brauchbaren Dingen, die die
Deutschen weggeworfen hatten.

Dritte im Bunde war die Sprecherin des Literaturkollektivs, Dr. Cicek
Bacik. Sie berichtete in ihrer Geschichte „Das Fenster zum Hof“
über ihre Kindheitserinnerungen in einem Wohn-Ghetto in
Berlin-Spandau. „Meine ersten Jahre habe ich in der wunderschönen
Natur in der Türkei verbracht. Ich war sehr enttäuscht, als ich nach
Deutschland kam“, erzählt sie. Zwei Geschwister hatten die Eltern
früh mitgenommen, sie und ihren Bruder aber erst in der Türkei
zurückgelassen und 1980 nach Berlin geholt. „Jedes Flugzeug, das in
Tegel zur Landung ansetzte, flog durch unser Wohnzimmer hindurch“,
ist einer der schönsten Sätze in ihrer Geschichte. Mit sechs Leuten
lebte die Familie in einer Einzimmerwohnung.

Bacik berichtet von ihrer aufkeimenden Freundschaft zu einem einsamen
deutschen Physikstudenten, der ebenfalls in dem Haus wohnte und mit
dem sie sich als Teenager über Literatur und Politik austauschte.

Den meisten Gastarbeitern und ihren Kindern, egal in welcher
Generation sie in Deutschland leben, sprechen diese Geschichten aus
der Seele.

„Ich bin 1978 nach Köln gekommen und bin mehr Kölner als
Türke“, erzählt Ozan Ata Canani, in dessen Text zu „Deutsche
Freunde“ diese Heimatlosigkeit der Gastarbeiter thematisiert wird:
„Ich frage mich, wo wir jetzt hingehören.“ An diesem Abend im
Café Henry war die Frage einfach zu beantworten, denn die
„Daughters and Sons of Gastarbeiters“ boten den Zuhörern für
rund anderthalb Stunden eine literarische und musikalische Heimat.

Redakteur/in:

RAG - Redaktion

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