Lebendige Geschichte
Die Rosenkränze, die wir gebetet haben, kann man nicht mehr z ...

Geschichtsunterricht am Albert Schweitzer-Gymnasium in Hürth: Julia Mönch hat ihre Oma für eine ganz spezielle Unterrichtsstunde in ihren Geschichtskurs eingeladen: Als Zeitzeugin berichtet sie von ihren Erinnerungen an die NS-Zeit. | Foto: Carolin Mönch
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  • Geschichtsunterricht am Albert Schweitzer-Gymnasium in Hürth: Julia Mönch hat ihre Oma für eine ganz spezielle Unterrichtsstunde in ihren Geschichtskurs eingeladen: Als Zeitzeugin berichtet sie von ihren Erinnerungen an die NS-Zeit.
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Für den Geschichtsunterricht am Albert Schweitzer-Gymnasium hat
Julia Mönch ihre Großmutter als Zeitzeugin der NS-Zeit eingeladen.
Lea Dinsing hat die außergewöhnliche Geschichtsstunde in einem
bemerkenswerten Aufsatz beschrieben

Sie war ein Kind, als der zweite Weltkrieg ausbrach. Heute teilt sie
ihre Gefühle aus der Zeit des Grauens mit einer zwölften Klasse.
Eine Reise in die Vergangenheit in der dritten Schulstunde eines
Montagmorgens. Als ich den Raum meines bilingualen
Geschichtsunterrichts betrete, sitzt die Großmutter einer
Klassenkameradin bereits zwischen Tafel und Pult auf einem der
typischen Schulstühle. Neben ihr sitzt meine Mitschülerin, in der
ersten Reihe ihre Tochter und eine weitere Enkelin.Frau Nellessen, so
lautet der Name der Zeitzeugin, sitzt still im Klassenraum und lässt
ihren Blick ebenso über die Schüler und Schülerinnen wandern wie
diese über sie. Auch ich beäuge die Besucherin, sehe ihren blauen
Pullover, ihre schwarze 3/4 Hose, die glänzenden Schuhe, die Brille
auf ihrer Nase und ihre Kette. Sie wirkt gesammelt, nur kleine
Handbewegungen und das wiederholte Blickschweifen deuten auf eine
leichte Nervosität hin. Ich stelle mir vor, wie nervös ich sein
würde, wäre ich in ihrer Situation und komme zu dem Schluss, dass
ich es mir nicht vorstellen kann. Von dem, was ich theoretisch im
Unterricht über das Zeitalter des zweiten Weltkriegs in Deutschland
gelernt habe, müsste die Frau panisch sein, in diese Zeit gedanklich
zurückzukehren und sei es nur für 45 Minuten, in einem sicheren
Raum, viele Jahre später.

Frau Kalter, meine Geschichtslehrerin, begrüßt die Frau, die 1928
geboren ist und 11 Jahre alt gewesen sein muss, als der Krieg
ausbrach. Nun soll die Zeit beginnen, die Fragen zu stellen, die wir
letzte Stunde als Vorbereitung gesammelt hatten. Doch der muffig
riechende Schulraum bleibt still, nur Frau Kalter lacht darüber, wie
wir Schüler sonst nicht so schüchtern und still sind. Auch Frau
Nellessen muss leicht schmunzeln und legt die Hände vor sich auf das
Pult. Zaghaft wird nach einigen Sekunden fast schon peinlicher Stille
die erste Hand gehoben: „Wie hat man vor dem Krieg gemerkt, dass
sich was verändert, und was war der erste Gedanke, als der Krieg
ausgebrochen ist?“, ertönt es aus dem Klassenraum und Frau
Nellessen beginnt zu erzählen. Sie berichtet davon wie am Anfang
alles noch ganz normal war, wie sie in die Schule ging und die
christlichen Kreuze hängen blieben, davon wie die Kreuze gegen
Hakenkreuze ausgetauscht wurden, davon wie Ende 1938 jüdische
Mädchen aus ihrer Klasse „abgeholt“ wurden. Erschreckend
detailliert erinnert sie sich an das Ereignis, welches sich in ihrem
10. Lebensjahr ereignete, wie morgens noch alles „normal“ war, bis
zwei Zivilisten und ein SA-Mann den Unterricht unterbrachen. „Ihr
müsst jetzt mitgehen“, zitiert sie den damals formulierten Befehl,
erzählt, wie keiner wusste, warum sie denn gehen mussten, sie wussten
zwar, dass alle diese Mädchen jüdisch waren, doch in welcher Welt
ist das ein Grund für irgendetwas?Es war eine andere Zeit, eine
andere Situation, so Nellessen, es traute sich keiner zu fragen. Die
Mädchen gingen mit und sie erfuhren nie, wohin denn eigentlich. Auf
die Frage nach Namen sagt sie, dass sie noch wüsste, dass es
Zwillinge und ein anderes Mädchen waren, eine hieß Edith. Nun ist
der Raum komplett verstummt, wir hängen an ihren Lippen, der Name
macht das Geschehene und das, was höchstwahrscheinlich danach folgte,
so viel realer. Im Nachhinein wäre ihr aufgefallen, erzählt die
Frau, die in Gedanken versunken vor uns sitzt und an ihrem Leben
teilhaben lässt, wie ein Mädchen schon das Jahr vorher mit ihren
Eltern nach England gegangen wäre. Jetzt wäre ihr klar warum, damals
wusste sie von nichts.Als wäre das Eis gebrochen kommen mehr und mehr
Fragen: „Wie hat sich die Schule verändert?“, „Waren sie im
BDM?“, „Wie war das Gefühl beim Erfahren von Hitlers Suizid?“,
wird sich erkundigt und Frau Nellessen teilt ihre Erfahrungen, teilt
sie auf eine ruhige Art, während sie leichte Handgesten benutzt und
ab und an zum Fenster herausschaut. Ist gerade eine Redepause, die
jungen Erwachsenen sind besonders schockiert von einer Geschichte oder
suchen nach der richtigen nächsten Frage, welche wichtig genug für
unsere kurze Schulstunde scheint, so wirkt Frau Nellessen manchmal so,
als wäre sie weit weg und die Luft um sie herum wirkt schwer.

Auch auf die schwerwiegenden Fragen: „Kannten sie Juden, die
deportiert wurden?“ oder „Wie hat sich ihre Familie verändert?“
, antwortet sie, scheinbar ruhig und gefasst. Nur ab und an geht ihr
Blick Richtung Boden und die Belastung der Erinnerung wird greifbar.
So erzählt sie von der Angst vor dem Verratenwerden, dass es in
Rheinbach, wo sie gewohnt hat, viele jüdische Geschäfte gab, an die
fünf Metzgereien und ein Textilgeschäft, wie ab 1938 Schilder und
Beschmierungen an diesen zu finden waren: „Deutsche gehen hier nicht
hin!“, zitiert sie einen der zahllosen Sprüche. Wie Leute am Anfang
noch durch Gärten an die Hintereingänge der Geschäfte liefen, es
jedoch eine Frau gab, die immer am Fenster stand und einen Laden
beobachtete, bei dem auch ihre Familie zu Beginn noch kaufte und diese
dann meldete, bis keiner mehr dorthin ging.Sie berichtet davon, wie
präsent die Angst vor den eigenen Familienmitgliedern war, wie jeder
ein Spitzel sein und jeder einen verraten könnte und
höchstwahrscheinlich würde, sollte man ein falsches Wort aussprechen
oder eine der unzähligen Vorschriften brechen. Die Themen werden
ernster und ernster, die Fragen tieferbohrend und mutiger, die
Geschichten trauriger und bedrückender. Wir Schüler werden, ich
werde betroffener und betroffener. Diese Betroffenheit vertieft sich
als die kleine Frau, die ich mir gut als liebevolle Großmutter
vorstellen kann, davon erzählt, wie sie das Jahr 1945 quasi nur im
Keller verbracht hat, wie man sich abends schon gar nicht mehr richtig
auszog, dann, sobald die Sirene kam, immer drei Häuser weiter in den
Keller gelaufen ist „damit man nicht alleine ist“, und nur gebetet
hat, dass es vorbeigeht. „Die Rosenkränze, die wir gebetet haben,
kann man gar nicht mehr zählen“, sagt sie, den Blick auf den Boden
gerichtet und ich kann fühlen, wie ich eine Gänsehaut bekomme. Die
Angst, die das damals 17jährige Mädchen gefühlt haben muss, ist
unvorstellbar und plötzlich wird mir bewusst, wie ich selbst vor
wenigen Wochen erst 18 geworden bin, welches Glück ich habe mit der
Zeit, in der ich lebe, welches Glück die meisten, die auf dieser Welt
leben, haben, und wie schrecklich es ist, dass das von Frau Nellessen
Erzählte noch heute auf der Welt geschieht.Es kommt die Frage nach
ihrer schlimmsten Erinnerung und die Frau, deren Augen nun solche
Tiefe zu haben scheinen, in denen solche Abgründe leben, berichtet,
ohne dass ihre Stimme bricht, von Bombenangriffen an Silvester, von
Internaten, die in Feldlazarette umgebaut wurden, von
Familienmitgliedern, die drei Tage unter den Bombentrümmern begraben
waren und vom 5. März, einen Tag bevor die US-Soldaten Rheinbach
besetzen, dem „Tag des großen Angriffs“, so Nellessen, nachdem
ein Soldat in den Bunker kam, sechs Wochen alte Zwillinge im Arm, mit
der Nachricht, dass alle tot seien, nur die beiden Kinder hätten
überlebt. Sie erzählt, wie jeder einen Volksempfänger hatte,
ausländische Sender verboten waren und wie ihre Mutter abends auf
einem Stuhl stand, mit dem Ohr am Lautsprecher, der auf ganz leise
gestellt war und die BBC hörte, das Gefühl der Angst vor dem
Entdecktwerden, ebenso präsent wie das der Hoffnung, dass man durch
die Nachrichten schon vor der Sirene von den Bombern wusste und in den
Keller flüchten konnte.Der Raum, der jetzt bis auf die nicht
versagende Stimme der Zeitzeugin in einer Stille liegt, wie sie sonst
nicht in Klassenräumen zu finden ist, wird gefüllt mit Bildern vom
Verdunkeln von Fenstern mit allem Auffindbaren, damit die Flieger die
kleine Stadt nicht entdecken konnten, davon wie Leute Kontrolle
liefen, damit kein Lichtstrahl mehr nach draußen drang, davon wie
groß die Angst war. Es werden weniger Fragen gestellt, Frau Nellessen
scheint in Erinnerungen verfallen und erzählt immer weiter von heute,
von, zumindest hier in Deutschland für viele, unvorstellbaren
Gefühlen und Ereignissen. Doch immer, wenn die Geschichten enden,
folgen neue Fragen.So richtet sich die Aufmerksamkeit, als unsere Zeit
in die Vergangenheit schon fast um ist, auf die Nachkriegszeit. Als
der Krieg dann tatsächlich zu Ende war, da hatte sie Angst,
beschreibt sie. Angst vor den Amerikanern, denn wenn die kommen, hieß
es, wenn die kommen, vergewaltigen sie Mädchen. Und so schildert sie,
wie sie mit fünf bis sechs anderen Mädchen auf Kartoffelberge gelegt
und zugedeckt wurde, wann immer die Amerikaner kamen. Die Ängste, die
Todesängste, unter denen die damals junge Frau gelitten haben muss,
ist erschreckend auf eine Art, die Worte nicht einfangen können. Sie
erzählt, wie die Amerikaner aber eigentlich ganz nett waren, wie die
zwar „Maschinenpistolen“ hatten, aber immer nur nach jungen
Männern gefragt hätten.

Auf die Frage, wie lange es gedauert hätte, bis nach dem Krieg alles
wieder „normal“ wurde, muss Frau Nellessen lachen. „Lange, lange
Jahre“, antwortet sie und ich frage mich, ob nach solchen
Erfahrungen überhaupt jemals irgendetwas wieder auch nur ansatzweise
normal werden kann. Wie um die Stunde zu beenden, kommen wir auf die
heutige Politik zu sprechen. „Was halten Sie von der AfD bzw.
anderen rechten Bewegungen? Wie finden sie es, dass diese an Macht
gewinnen?“, wird sich erkundigt. „Ich kann es nicht verstehen“,
so Nellessen. Sie muss lächeln, als sie berichtet, wie sie am Morgen
gehört hat, dass die AfD zwei Punkte verloren hat. Ich lächle kurz,
wie um ihr zuzustimmen, dass es gut ist, dass die AfD weniger Zuspruch
hat. Doch eigentlich bin ich viel zu bedrückt, dass die AfD, nach
allem was geschehen ist, was Frau Nellessen passiert ist und wir heute
gehört haben, überhaupt noch eine Chance hat, dass es überhaupt
noch Menschen gibt, welche diese wählen.Frau Kalter beendet die
Schulstunde, in welcher ich so viel mehr gelernt habe als in jeder
Textbuchpaukenstunde. Es werden Höflichkeiten ausgetauscht und ganz
wie am Anfang dieser vierten Stunde eines Montagmorgens fühlen sie
sich nicht passend für das Gravierende, das Persönliche an, welches
heute mit uns geteilt wurde. Nach der Überreichung eines
Blumenstraußes, der unserer Dankbarkeit nicht gerecht wird und als
die ersten den Raum schon verlassen und ich meine Sachen zu packen
beginne, sagt die kleine Frau mit den vielen, unglaublich
detaillierten Erinnerungen aus einer solch schweren Zeit: „Ich
wünsche nur allen, dass sie es nie erleben müssen.“ Und als ich
Minuten später in die heutige Welt, inmitten von lachenden Fünft-und
Sechstklässlern, eintauche, kann ich nicht anders, als genau dies zu
hoffen, unabhängig von Rasse, Religion oder jeglicher anderer
Merkmale.

Geschichtsunterricht am Albert Schweitzer-Gymnasium in Hürth: Julia Mönch hat ihre Oma für eine ganz spezielle Unterrichtsstunde in ihren Geschichtskurs eingeladen: Als Zeitzeugin berichtet sie von ihren Erinnerungen an die NS-Zeit. | Foto: Carolin Mönch
Drei Generationen im Geschichtsunterricht vereint (von links):  Uschi Mönch, Carolin Mönch, Barbara Nellessen und Julia Mönch, die ihre Oma als NS-Zeitzeugin in den Unterricht eingeladen hatte. | Foto: Mönch
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